Scream, 2007, Serie von drei Bildern, je 70 x 50 cm.
Eine Bildinterpretation
von Susanne Meyer
Scream ist eine Serie von drei Bildern aus dem Jahr 2007, die von rechts nach links zu lesen ist, in der Reihenfolge ihrer Entstehung.
Wolf erzählt hier eine Geschichte, es ist eine Szene in drei Akten, in denen dieselben Protagonisten in jeweils neu arrangierten Sinnzusammenhängen erscheinen.
Am Beginn der Arbeit stand ein schwarz-weißer Laserprint einer Abbildung von Edvard Munchs Bild Der Schrei, den Wolf sich aus dem Internet geholt und ausgedruckt hatte.
(Edvard Munchs Bild Der Schrei, von 1893, Öl, Tempera und Pastell auf Pappe, 91 × 73,5 cm, befindet sich in der Norwegischen Nationalgalerie Oslo.)
Munch hatte 1893 das Gefühl frei fluktuierender Angst in eine einfache künstlerische Form gegossen, die authentischer nicht sein konnte.
Munch hatte, so weiß man aus seinen eigenen Äußerungen, diesen Schrei der Angst nach außen projiziert, in die Natur verlegt.
1893, Sigmund Freud entwickelte gerade die Psychoanalyse, war es Munch nicht möglich, seine innere Realität von Leid und Schmerz zu integrieren. Munch stand am Brückengeländer, allein, zurückgeblieben und dissoziiert von seinen Begleitern, seinen Freunden. Er hatte Angst vor der Angst, die in ihm aufstieg.
Wolf interpretiert Munch nicht, sondern nimmt seine Bildgestalten einschließlich der Bildkomposition bei ihrer Struktur, liest sozusagen ihre DNA aus und assimiliert sie künstlerisch, um einen eigenen Schrei zu gestalten.
Im rechten Bild erscheint die Figur des Schreienden, mit aufgerissenen Augen und Mund, die Hände an den Kopf gehalten. Wolf hat sie, wie alle anderen Bildelemente, mit Filzstift gezeichnet und anschließend mit Ölfarbe etwas verstärkt und malerisch leicht ausgestaltet.
In ihren Gesichtsausdruck ist ein wenig Disney, ein wenig Donald Duck eingeflossen, was der Figur eine humoristische Note verleiht; das totenschädelhafte, das Munchs Schreiendem anhaftet, ist gewichen.
Die Brücke, in Munchs Bild eine Holzbrücke am Fjord, ist bei Wolf - reduziert auf ihre Struktur - eine Flucht mit starkem Sog, auch eine Straße, die allerdings keine perspektivische Verjüngung zeigt, da dies im Interesse der Struktur irrelevant ist, ja mehr noch unerwünscht, Wolf sucht gerade einen abstrakten geistigen Bildraum zu erzeugen; in diesem Bild entsteht schließlich der Eindruck einer Vogelperspektive des Betrachterstandpunktes.
An dieser Brücke oder Straße stehen zwei schlanke schwarze Gestalten, wie Fremde, es sind ‚die Anderen‘, deren Distanziertheit das persönliche Gefühl von Angst und Bedrohung unterstützt.
Im oberen Bildteil, theoretisch hinten, ist durch Umrisse ein See angedeutet, auf dem zwei kleine Segelboote liegen, in roten dicken Farbwürsten hat Wolf sie direkt aus der Tube auf die weiße, ungrundierte Leinwand gesetzt; es könnten auch fliegende Vögel sein, in jedem Fall bilden sie im Ganzen des Bildgefüges ein die befremdliche Atmosphäre unterstützendes Spannungselement.
Wolf hat die Dramatik, die Munch zum Ausdruck des Schwindels, des Gefühlsstrudels, in die Kurven der Fjordlandschaft gelegt hat, strukturell übernommen und ein paar grüne geschwungene Linien rechts ins Bild gezeichnet.
1893 steht unten im Bild geschrieben, es ist ein konkreter historischer Verweis und projizierter Rückblick aus der Gegenwart in die Vergangenheit, in die Vergangenheit und Gegenwart Munchs, die Wolf zu seiner Gegenwart macht, indem er das Kleine Tier als Zeuge oder Kundschafter auf eine Zeitreise geschickt hat.
Das Kleine Tier sitzt oder liegt flach auf der Linie, die Wolf quer durch die Mitte des Bildes gezogen hat und in diesem Bild nicht, wie so oft, als Horizontlinie oder Hochseil einsetzt, sondern als Vektor, als signifikantes Zeichen, das auf das nächste Bild verweist, gleichzeitig ist dieser Pfeil Transportmittel für das Kleine Tier, das hier in Anspannung verharrt; seine Haltung, die langen, nach hinten stehenden Ohren und der Schwanz, deuten an, dass es sich in Aktion befindet, jedoch passiv ist, bewegt wird und dabei einer gewissen Geschwindigkeit ausgesetzt ist.
Wolf sagte, das Kleine Tier auf dem Zeitpfeil sei in dem Bild eine Art Parallel-Welt und dürfe nicht gesehen werden, es muß sich unbemerkt durch die Szene bewegen, da es sonst in den Verlauf der Dinge eingreifen würde und verweist auf Szenen in Robert Zemeckis Science-Fiction-Trilogie Zurück in die Zuknuft, wo dieses Paradoxon spannend umgesetzt ist, dort darf Marty sich nicht selbst begegnen.
Machen wir einen Sprung in das zweite, mittlere Bild.
2007. Die Dinge haben ihren Lauf genommen, die Protagonisten des Bildes stehen in einer veränderten Beziehung.
Wir finden die schreiende Person hier als ganze Figur, im Vergleich zu ihr wird nun deutlich, dass sie im ersten Bild ein Kind ist. Ein Kind, allein in seinem Schmerz.
Hier nun, im zweiten Bild, ist aus dem traumatisierten Kind eine junge Frau geworden.
Indem Wolf ihr die Hand an den Kopf legte, verwandelte sich die Schreckensgeste in eine der Eitelkeit.
Wolf hat diese aufkommende Gestalt und Information verstärkt, indem er ihr einen Busen, Rock und Gürtel und rote Lippen gab.
Die Figur hat einen Körper bekommen. Und sie ist nun mit sich selbst beschäftigt, sie hat ihr Leid kultiviert und ist sozialisiert.
Vorn im Bild sehen wir das Kleine Tier in aggressiver Konfrontation mit den zwei fremden Gestalten, die es heftig anbellt, anschreit.
In die Gestaltung der zwei Fremden, die dem Tier gegenüberstehen, ist ein autobiografisches Erinnerungsbild Wolfs hineingeflossen:
Wolf hatte einst seine Eltern, die in seiner damaligen Firma Meyer & Dyckhoff für ihn gearbeitet hatten, rausgeworfen, nachdem sie seine Sekretärin notorisch schlecht behandelt hatten. Er hatte ihnen gesagt, sie könnten ihre Sachen packen und nachhause gehen, was sie dann auch taten.
Wolf hatte am Fenster gestanden und ihnen nachgeschaut, den beiden alten Leuten, die da so verloren, aber doch als Täter, uneinsichtig, abzogen.
Wolf fühlte sich nicht gut danach.
Die zwei abstrakten Figuren sind in diesem Bild konkret geworden, es sind die Eltern geworden, die Eltern als Täter, die ihrem Kind Leid zufügen.
Wolf hat ihnen rote Schuhe angezogen, auf denen sie ihren Weg gehen. Doch so einfach kommen sie hier nicht davon, das Kleine Tier hat sich vor ihnen aufgebäumt, um sie zu stellen, die sich nicht selber stellen.
Wir schreiben das Jahr 2007, das für die Gegenwart steht, was bedeutet, dass alles in einem lebendigen dynamischen offenen Prozess ist, einem Prozess, der ein Ziel in der Zukunft hat, welche durch persönliche Projektion zu einer Zone der Wahrscheinlichkeit wird.
Wolf hat oben links eine Tür ins Bild gesetzt, oder ein Fenster, eine Öffnung, die mit verwischten Farben malerisch geschlossen ist, aber durch lichte Flecken auch potentiell durchlässig wirkt, es könnte auch ein Spiegel darin sein, der Spiegel, in dem das eitle junge Mädchen sich selbst reflektieren kann?
Diese Tür steht für den Ausgang, für Lösung und wenn es ein Spiegel ist, dann verweist er uns darauf, dass die Lösung, die wir suchen, in uns selbst ist.
Auch in diesem Bild ist eine Linie gezogen, als Zeitpfeil, der nach links verweist, auf eine zu diesem Zeitpunkt noch weiße Fläche an der Wand.
Wolf hatte zwar eine dritte Leinwand stehen, doch zunächst keinen Impuls, diese direkt anzuschließen.
Er hatte seine Farben abgeräumt, saß auf seinem Sofa und schaute sich sein Werk an.
Schließlich war die Neugierde zu groß, was da noch kommen möge, und er entschloss sich, ein drittes Bild zu malen.
Die Quelle mußte erneut angezapft werden und so suchte er Inspiration und Information in dem Laserdruck von Munchs Bild Der Schrei, den er nun seitenverkehrt gegen das Licht hielt.
Erneut griff er die formale Struktur der Komposition auf und setzte sie komplementär zum ersten Bild zunächst mit Filzstift motivisch in Szene, um dann mehr und mehr malerisch zu werden.
Die Figur des Schreienden, die selbstverständlich auch Selbstbildnis ist, steht hier als zentrale Gestalt wieder im Vordergrund, doch ist sie wie zuvor passiver oder beobachtender Teilnehmer; sie steht an einem Brückengeländer und schaut auf das Kleine Tier, das hier einen Partner gefunden hat, dem es liebevoll zugewandt ist.
Wolf hat die beiden Tiere in den Komplementärfarben Rot und Grün ausgemalt und ihre Köpfe mit einem gelben Herzen, einem trivialen Kitsch-Symbol umrahmt.
Die Bedeutung des Kleinen Tieres in Wolfs Werk ist komplex und nicht eindeutig, in jedem Fall ist es eine Art spiritueller Führer oder Ausdruck des Höheren Selbst.
In der Geschichte dieser Bild-Serie hat das Kleine Tier einen guten Job geleistet, es hat sich stark gemacht gegen das Böse, das hier auf schicken roten Schuhen in Elterngestalt daherkam. Es hat mit dieser Tat dem verletzten Kind in Gestalt des Schreienden zu Recht und Genugtuung verholfen, es hat stellvertretend den inneren Schrei des Kindes nach außen gebracht und gerichtet, auf die Quelle der Verletzung, darin liegt Heilung.
Das Rot des Entsetzens im Gesicht des schreienden Kindes im ersten Bild ist gewichen und die Wangen sind nun gelb, der Schreiende hat Identität gewonnen. Wolf hat ihm gelbe Augenbrauen gegeben, die Rohheit der Physiognomie ist nicht mehr, wie in Munchs Bild, Ausdruck des Gefangenseins im Schmerz, sondern Ausdruck der in einem Prozess aufgestiegenen Wahrheit primärer Gefühle aus frühen Verletzungen, die im vorsprachlichen Bereich, d.h. in den Tiefen des Hirnstamms und im Limbischen System gespeichert sind, und -weil sie eine andere Sprache sprechen- uns tierisch anmuten.
Die donaldducksche Niedlichkeit im Ausdruck des Schreienden im ersten Bild, die aus der jetzigen Perspektive beinah wie eine Maskierung anmutet, ist gewichen zugunsten eines affenartigen Ausdrucks.
Das gelbe Herz, das das Kleine Tier mit seinem Partner vereint, finden wir noch einmal als sichtbares Organ auf der Brust des Schreienden; auch die gelben Umrisslinien seiner Schultern und die gelben Wangen zeigen an, dass sie Teil seiner Physiologie sind, d.h., er ist von Liebe durchdrungen und darin in Verbindung mit den Tieren, er ist einer von ihnen und mit seiner ganzen Wahrheit und dem Leid wie die zwei Kleinen Tiere ein Stück in Frieden.
Die Farbe Gelb transportiert in dieser Bilder-Serie eine eindeutige sinnhafte Qualität: die Wut-Energie des Kleinen Tieres im mittleren Bild, von Wolf in gelben Striemen comichaft als dessen Sprache verdinglicht, ist stofflich von derselben Qualität wie die Liebe, die im nächsten Bild symbolisch in Herzform erscheint sowie im projizierten Datum 2015.
Das Ziel in der Zukunft ist immer Heilung, Zugewinn, Lösung, gelassene Heiterkeit: Serenity, ein ausgesprochen hoher Wert für Wolf, in diesem Sinne ist die ganze Szene des dritten Bildes zu verstehen.
Die beiden objektivierten Gestalten, die Eltern, die beiden fremden Freunde, sind nun wieder in den Hintergrund gerückt.
Sie stehen am Ende der Brücke und schauen auf den See, der hier malerisch mit Cyanblau ausgestaltet ist.
Der See ist zu einem Meer geworden, die Segelboote des ersten Bildes haben sich in zwei große Kähne oder Ozeandampfer verwandelt.
Die amorphe Form dieses malerischen Gebildes korrespondiert formal mit dem direkt angrenzenden Fenster des mittleren Bildes, das eine projektive Öffnung in eine Zukunft war, als wären es die Portale eines Wurmslochs, durch das eine Reise jenseits von Raum und Zeit stattfinden kann.
Dem See haftet auch der Charakter einer Projektion an, eine gewisse Unwirklichkeit, Unbestimmtheit, Ungreifbarkeit liegt darin, er erinnert mich auch an eine Kristallkugel, in die man hineinschaut, um die Zukunft zu lesen, zu schauen, die im Sinne der Wahrscheinlichkeit zugleich offen und bestimmt ist.
Wolf sagte, die Raum-Athmosphäre im linken Bild erinnere ihn an Scharbeutz, den Ferienort an der Ostsee. Eine Kindheitserinnerung, vielleicht die Erinnerung an glückliche Momente.
Die Eltern sind in Frieden entlassen und flanieren vielleicht auf der Ostsee-Promenade.
In diesem dritten Bild finden wir komplementär, spiegelverkehrt zum ersten Bild, den Vektor als Zeit- oder Richtungspfeil von links nach rechts weisend, rückverweisend auf die vorangegangenen Bilder.
Die Verstärkung des Schafts durch Verdoppelung der Linie suggeriert, dass im Zusammentreffen der Bewegungspfeile eine Überlagerung, eine Interferenz stattfindet, d.h., es handelt sich hier um eine Art Quantenwelle aus der Zukunft, die in die Gegenwart und Vergangenheit wirkt und diese mitgestaltet.
© 2018 Susanne Meyer