Der Titel dieses Aufsatzes ist in verschiedener Hinsicht als Provokation zu
verstehen. Erstens ist die Formulierung 'Spätwerk' in Kirchners Falle vielleicht etwas unangemessen, da der Künstler gerade 58 Jahre jung war, als er sich auf einer Schweizer Alpenwiese mit der
Pistole das Leben nahm.
Die Formulierung 'Spätwerk' benutze ich hier in Bezug auf eine persönliche Eigenart Kirchners, der nämlich selbst sein eigenes Schaffen in zeitlich-lineare Kategorien
einzuordnen pflegte.
Kirchner war außerordentlich exzentrisch und
sah es gleichzeitig als seine künstlerische Verantwortung, seine Arbeit wie ein Außenstehender mit objektiven Augen kritisch zu reflektieren, aber nicht, wie man meinen könnte, um in
intellektuelle Selbstzweifel zu verfallen, ganz im Gegenteil:
1926 - Das Schaffen aus der Phantasie
Kirchner sah sein Werk als eine folgerichtige Entwicklung mit stetiger Aufwärtsbewegung in der Lösung künstlerischer Herausforderungen und seinen 'abstrakten' Schweizer
Spätstil, den er als 'Arbeit aus der Phantasie' klassifizierte und auf das Jahr 1926 zurückführte, betrachtete er als erwartete und schlüssige Vollendung seines Schaffens.
Im Kontext dieser künstlerischen Selbstreflexion Kirchners ist es also berechtigt, vom 'Spätwerk' zu sprechen.
Im Kontext seines kontrastreichen und bewegten Lebenslaufes und seiner Lebensgestaltung ist es sogar mehr als berechtigt, das 'Spätwerk' als solches zu betrachten, es ist
notwendig, denn es reflektiert eine besondere historische Situation: den Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten gegen Geist und Kultur, dem Kirchner leibhaftig zum Opfer
fiel. "Wenn es ein muß, bringe ich auch das Leben zum Opfer für die Kunst" schreibt er 1937, ein Jahr vor seinem Freidtod.
"Ich will arbeiten mit letzter Kraft und dann weg!"
In seiner extremen spirituellen Sensibilität war Kirchner zum Kämpfer verdammt. Dass sein Leben in absehbarer Zeit ein abruptes Ende nehmen
würde, schien für ihn mehr als wahrscheinlich zu sein, er hatte sein Leben und Schaffen quasi programmiert; 1938, als er mit der konkreten Diffamierung seines Werkes durch die Nationalsozialisten
konfrontiert war und sich entschlossen hatte, diese Hölle nicht mehr erleben zu wollen, war sein künstlerisches Schaffen zur Vollendung gelangt.
Die zweite Provokation liegt, wie man leicht erkennen kann, darin, angesichts des Selbstmordes und angesichts der Diffamierungen Kirchners die Frage zu stellen, ob man seine letzten Davoser
Jahre, die stark von Einsamkeit, Krankheit und Angst bestimmt waren, und das in diesem Klima entstandene Werk salopp als 'Sackgasse' betrachten kann. Der Zynismus,
den ich mir hier als Unterton erlaubt habe, reflektiert eine zweite brisante Situation, der ich mich als Fürsprecher des 'Individuums' ausgesetzt fühle: das Wesen einer bürgerlichen
Kunstrezeption als Herrschaftsinstrument, die das Werk eines Künstlers gern für eine kollektive Kulturgeschichte vereinnahmt und dabei zu schnell vergisst, dass das Produkt aus künstlerischer
Kreativität das geistige Eigentum eines Individuums ist.
Kirchner, Vollstrecker seines eigenen Schicksals?
Setzte ich die Brille des 'bürgerlichen Empfindens' auf, dann erscheint Kirchner leicht als Opfer seines eigenen Charakters. Etwas überspitzt formuliert erscheint Kirchner
dann etwa so: Schwierig, krankhaft misstrauisch, ein Querulant, der überall Intrigen witterte, arrogant, indem er sich von seinen Brücke-Kollegen distanzierte und
anmaßend, indem er einige Werke nachträglich vordatierte. Er flüchtete sich in die Einsamkeit der Schweizer Berge und verstieg sich in der Suche nach rein künstlerischen Fragen; kurzum eine
bemitleidenswerte Kreatur. Kirchner, der an sich selbst scheitert und schließlich, in Krankheit und Lebensverdruss gefangen, seinem Leben selbst ein Ende
setzt.
Betrachte ich Kirchners Werk durch diese Brille, dann erscheinen mir die aus der Phantasie geschaffenen 'abstrakten' Bilder der Spätzeit im Vergleich mit den expressiven
'Hauptwerken' z.B. aus der Berliner Zeit um 1914 befremdlich und künstlerisch weniger überzeugend. Kirchner steht doch schließlich für spitzige, exzentrische Formen, für den höchsten Ausdruck,
kurzum für 'Expressivität'. Im Spätwerk konfrontiert er uns mit milden, ausgeglichenen, abgerundeten Formen, in denen der Mensch als Individuum fast verschwunden
ist, die konkrete menschliche Gestalt rein kompositorischen Zwecken der Gestaltung von Linie und Fläche, Licht und Schatten unterworfen ist. Und schließlich
beansprucht Kirchner für sich noch, diese 'abstrakten' Werke aus der Phantasie an den kubistischen Meisterwerken Picassos zu messen??
Kirchner, ein Künstler mit herausragender Integrität
Da ich mich als Fürsprecher des Individuums und seiner persönlichen Realität, der Kreativität und des 'geistigen Eigentums' verstehe, mangelt es mir naturgemäß an 'objektiven'
Maßstäben, an denen ich Wert oder Unwert eines Bildes messen könnte. Betrachte ich Kirchner und sein Werk, dann nur auf der Grundlage, dass beide eine untrennbare
Einheit sind, und Kirchners Spätwerk damit ein unmittelbarer Ausdruck seiner individuellen Existenz. Allein als Dokument einer historisch dramatischen Zeit sind
die Bilder von unschätzbarer Bedeutung. Im Licht einer solchen Betrachtung erscheint Kirchner, wie im folgenden deutlich werden soll, als Künstlerpersönlichkeit
mit einer besonderen künstlerischen Integrität; und an dieser sollte er schließlich zerbrechen. Als Opfer seiner selbst erscheint Kirchner, solange man die
Eigenschaft 'künstlerischer Unbestechlichkeit' nicht genauso ernst nimmt, wie der Künstler selbst.
Die relative Blindheit des 'bürgerlichen Empfindens' für derartige menschliche Charaktereigenschaften hat meines Erachtens auch zur Folge, dass die Deutschen heute nicht
'ihren' Kirchner genauso lieben, wie die Spanier z.B. ihren Picasso. Man erlaube mir, eine solche heikle Vermutung in den Raum zu stellen. Versuchen wir also,
Kirchner aus der Perspektive des Künstlers zu verstehen und sein Spätwerk als unmittelbaren Ausdruck seiner individuellen Existenz zu erfassen.
Leben und Werk sind eine untrennbare Einheit...
...diese schlichte und unspektakuläre Tatsache hervorzuheben wäre mit Sicherheit in Kirchners Sinne gewesen, denn er selbst hat für die Deutschen eine Kunst ins Leben gerufen,
die unter dem Leitspruch der 'Einheit von Kunst und Leben' stand. Um verständlich zu machen, was das bedeutet, versetzen wir uns zurück nach Dresden, ins Jahr
1910.
Einheit von Kunst und Leben hieß für Kirchner und seine Maler-Freunde Heckel und Schmidt-Rottluff, ohne Geld und großen Komfort das Leben in vollen Zügen zu
gestalten. Man hatte sich ausgedacht, eine Vereinigung zu gründen, damit man sich auf diesem Wege vielleicht beim bürgerlichen Volke Gehör verschaffen könnte und
war hauptsächlich damit beschäftigt, nackte Mädchen beim Baden zu zeichnen.
Mitten im Coitus aufspringen und zeichnen
Die Clique fuhr dazu an die Moritzburger Seen, um dort zu flirten, zu feixen und wetteifernd das
Nackte Treiben zeichnerisch einzufangen. Einheit von Kunst und Leben hieß für Kirchner,
mitten im Coitus aufzuspringen, um eine Bewegung oder eine Körperpose in einer Zeichnung festzuhalten. Das besondere an der ganzen Situation war die Tatsache, dass
alle drei Künstler unwillentlich Architektur studierten, um sich die elterliche finanzielle Unterstützung zu sichern. Das hatte den Vorteil, dass man von der
konventionellen akademischen Vorstellung von Aktmalerei relativ verschont blieb und an Stelle des statischen Hinkuckens und 'richtigen' Zeichnens die freie aktive Sehweise eines natürlichen
Lebens praktizieren konnte. Wie fängt man die ganze Wirklichkeit in ihrer atmosphärischen Beschaffenheit und dynamischen Fülle der Aktionen in der Zeit schnell ein
und bringt sie ausdrucksvoll auf den Punkt und bleibt bei all dem selbst noch ein Teilnehmer? Die Formen waren entsprechend flüchtig und die Farben relativ unvermischt direkt
gesetzt. Farbe und Form waren unmittelbar aneinander gebunden und dienten nur sich selbst.
Das Bild war nicht Erzählung von etwas, sondern ein spontaner, 'expressiver', kurz ein authentischer Schnappschuss des Lebens.
Kirchner als getarnter Kunstkritiker
Die geistige Konzeption, die der
Einheit von Kunst und Leben zugrunde lag, war für Kirchner geradezu eine heilige Kuh. Er
schlüpfte dazu in die Rolle eines fiktiven französischen Kunstkritikers, Louis de Marsalle, um durch seine Feder dafür zu sorgen, dass die künstlerischen Ansprüche des 'Expressionismus', die
individuellen Beweggründe seines Schaffens, die Notwendigkeit und innere Logik seiner Arbeit nicht von ahnungslosen Kunsthistorikern verfälscht würden und so in die Geschichte
eingingen. Bevor ich auf die Inhalte der geistigen Konzeption zu sprechen komme, ein paar Worte zu Kirchners starkem Bestreben einer vorweggenommenen
Objektivierung seines Schaffens und dessen allgemeinen Wertes. Kirchners außerordentliche Kompromisslosigkeit in allen Dingen ist nämlich ein interessanter
Indikator für die 'Davoser Sackgasse', in der er sich später befinden wird. Kirchner 'litt' geradezu unter einer Art
Hyper-Integrität. Er räumte der Kunst vor allen anderen Dingen absolute Priorität ein, so
auch vor menschlichen Beziehungen. Er missbilligte andere Kollegen, wenn deren Ehrgeiz nicht ausschließlich auf rein künstlerische Absichten bezogen blieb, sondern auf äußerliche Dinge, auf
Erfolg oder Gefallen gerichtet waren.
Kaum Vertrauen, in der Kunst überhaupt verstanden zu werden
Er distanzierte sich infolgedessen von den meisten Künstlern, besonders von seinen Brücke-Freunden, und sein Leben mit Erna in Davos hat bisweilen den Charakter einer wenig
erquicklichen Zweck-Beziehung. Kirchner hatte kaum Vertrauen in die grundsätzliche Gegebenheit, von nicht-Künstlern überhaupt verstanden zu werden und darauf
zu setzen, schien ihm beinah schon Verrat an der eigenen Sache zu sein. So schreibt er in seinem Davoser Tagebuch: "Es ist furchtbar, den stinkenden Urin der
weichlichen Verehrer schon im Leben schlucken zu müssen. Leben ist Tat, nur das ist wirkliche Liebe."
Bezogen auf die geistige Konzeption, die Kirchners Expressionismus zugrunde lag, lässt sich der Appell an den bedingungslosen Tatendrang auf ein Wort verkürzen: die
Hieroglyphe. Die Hieroglyphe war für Kirchner der Inbegriff der schöpferischen Form und individuellen Handschrift eines Künstlers. Die Hieroglyphe entsteht unbewusst aus der Ekstase des Schaffens und bildet die gesehene Naturform in eine neue geistige Kunstform. Die Hieroglyphe ist dabei nicht lesbar als Einzelform,
sondern bezieht sich auf die Ganzheit der Komposition.
1914: Die Berliner Straßenszenen
"Immer werbe ich um die reine Form", und das heißt für Kirchner: zeichnen, zeichnen, zeichnen und immerzu holzschneiden, bis an die Schmerzgrenze, um den Prozess der
Erkenntnis und die Herausbildung der Hieroglyphe stetig in Gang zu halten. Der Einheit von Kunst und Leben steht also bei Kirchner ein ausgeprägter
Antipode entgegen, nämlich die innere Welt des künstlerischen Genius, der in seiner naturgegebenen Einsamkeit nur den Gesetzen der Kunst folgt. Kirchners Bilder
aus der Berliner Zeit um 1912, die Straßenszenen und Varietébilder markieren einen neuen Höhepunkt im Schaffen: Die gotischen Formen, z.B. die hochstrebenden Frauengestalten der Berliner
Kokotten am Potsdamer Platz, die waghalsige Bildkomposition, in der Farben und Flächen ein energetisches Kraftfeld bilden, diese sind der höchste Ausdruck einer Synthese aus dem Anspruch völliger
Freiheit und dem gleichzeitigen Anspruch an die Unterwerfung des Schaffens unter objektive künstlerische Gesetze. Kirchner selbst sah seine Berliner Straßenszenen
aus der Zeit um 1914 als einen gelungenen Höhepunkt in der Entwicklung seines Werkes.
1915: erster Einbruch
Es greift an dieser Stelle nun ein historisch bedingtes Zahnrad ins Getriebe seines Lebens ein, das eine fatale Richtungsänderung bewirkte und die Emigration in die
Schweiz zur Folge hatte: Kirchner wurde im ersten Weltkrieg als Soldat eingezogen. Die Dimension dieses traumatischen Einschnitts
in sein Leben zeigt das 'Selbstbildnis als Soldat', in dem Kirchner sich mit abgehackter Hand sieht. Mit Glück und dank guter Verbindungen konnte er jedoch bald in
ein Sanatorium im Taunus entkommen, womit der Weg in die Schweiz seinen Lauf nahm. Kirchner hatte durch exzessiven Tabletten-, Alkohol- und Zigaretten-Konsum den
Irrsinn des Krieges gegen sich selbst gerichtet. Er aß nicht, schlief nicht mehr im Bett, sondern rollte sich auf einer Decke zusammen, um durch Verweigerung eine
irrationale äußere Situation innerlich zu sublimieren. Im unmittelbaren Kontext diagnostizierte man Lungenaffekt, es kursierten Spekulationen über Spätfolgen einer Syphilis, dann vermutete man
einen Gehirntumor.
"Ich habe
immer den Eindruck eines blutigen Karnevals"
Die weiteren Hintergründe, die Kirchner in die Verweigerung trieben, lagen jedoch in der historischen Situation Deutschlands begründet. Die
Atmosphäre des ersten Weltkrieges war Grund genug, den sensiblen Künstler mit seiner offenen Wahrnehmung und charakterlichen Integrität aus der Bahn zu werfen. An
Gustav Schiefler schreibt Kirchner 1916: "Ich habe immer den Eindruck eines blutigen Karnevals. Wie soll das alles enden? Man fühlt, dass die Entscheidung in der Luft liegt, und alles geht
drunter und drüber. Aufgedunsen schwankt man, um zu arbeiten, wo doch jede Arbeit vergeblich und der Ansturm des Mittelmäßigen alles umreißt. Wie die Kokotten, die ich malte, ist man jetzt
selbst. Hingewischt, beim nächsten Male weg."
Mir liegt viel daran, deutlich zu machen, dass es konkrete Ursachen für Krisen gibt, denn zu leicht ist man geneigt, den Künstler einfach als krank abzustempeln, um eine
bürgerliche Normalität zu schützen. Man denke an die Legende vom verrückten van Gogh. Im Klartext gesprochen: Nicht Kirchner war
irrsinnig, sondern die Situation eines Krieges. Kirchner konnte als teilnehmender 'Dokumentar' der Wirklichkeit den -wie er es nennt "blutigen Karneval" in seinen Bildern nicht emphatisch
wiedergeben, ohne dabei in massive innere Konflikte zu geraten. Die Einheit von Kunst und Leben war schließlich kein theoretisches Programm, sondern eine praktizierte Realität.
Kulturverfall und Emigration
Zu diesem rein psychologischen Hintergrund des 'Ausstiegs' kommt ein politischer hinzu: Kirchners absolute künstlerische Unbestechlichkeit, die sich in einem tiefen Abscheu
gegen den geistigen Verfall in der deutschen Kultur während der Kriegsjahre äußert. Bezüglich des "Kunstschwindels" schreibt er an Schiefler: "Es sieht vieles im
allgemeinen bös aus, und Spekulation und Habgier herrschen im Lande, und die Menschen wollen einen hier und dort hineinzerren. Sie kennen mich doch insoweit, dass ich da nicht mittun kann, und
dass ich bald 20 Jahre nicht für Geld und Ehre, sondern fürs Weiterkommen in der Kunst gearbeitet habe."
Kirchner verließ also nicht nur krank, sondern als Emigrant sein Heimatland Deutschland und lebte fortan bis zu seinem Freitod 1938 unter Schweizer Bergbauern. Der belgische Architekt Henry van de Velde, der mit Kirchner bekannt war und zu dieser Zeit in der Schweiz verweilte, schrieb über seine Begegnung mit dem Künstler: "Der höllische Wahn, in die Schlacht zurückgeschickt zu werden, hatte ihn verwirrt... In Davos fand ich einen abgemagerten Menschen mit stechendem, fiebrigem Blick, der den nahen Tod vor Augen sah. Er schien entsetzt, mich an seinem Bett zu sehen, seine Arme presste er konvulsiv an die Brust. Unter seinem Hemd verbarg er seinen Pass wie einen Talisman, der ihn mitsamt der schweizerischen Aufenthaltsbewilligung vor dem Griff imaginärer Feinde bewahren konnte, die ihn den Deutschen Behörden ausliefern wollten."
Als Flüchtling unter Schweizer Bergbauern
Man spricht immer von Kirchners allgemeiner 'Lebensangst'. Hier handelt es sich um konkrete
Todesangst. Kirchner befand sich nun in ärztlicher
Betreuung des Davoser Sanatoriumsarztes Dr. Spengler, dessen Frau es übernommen hatte, ihn in den nächsten vier Jahren von der Morphiumsucht zu befreien, während der egozentrische Künstler eher
danach trachtete, sich von der strengen Fürsorge der Helene Spengler zu befreien. Jedenfalls kann man sagen, Kirchner hatte prompt intensive Beziehungen, die ihn
in der Schweiz hielten. Er mied das Bürgertum so gut er konnte und hielt sich an das einfache Volk. Das Leben der Bauern auf der
Alp war Kirchner sofort vertraut und sympatisch, denn die erdverbundene natürliche Lebensart war in gleicher Weise eine Einheit von Arbeit und Leben, wie Kirchner es selbst nicht anders
kannte.
Die Gesichter der Freunde in Holzschnitt und Foto festgehalten
Zu seinen bisherigen Schaffenskomplexen, wie er
sie selbst einschätzte, nämlich die 'Gestaltung des nackten Menschen in der Natur', das 'Straßenbild' und die 'Gestaltung des Verhältnisses zur Frau' kamen nun das 'Erlebnis der Berge' und die
'Zuneigung zu den Bergbauern' hinzu und schließlich die bereits erwähnten abstrakten 'Spätwerke', die Kirchner als 'freie Schöpfung aus der Phantasie'
klassifizierte. Bedingt durch die Emigration und die
konkrete freundschaftliche Unterstützung einzelner Personen während dieses Umbruchs bekam das Verhältnis zu anderen Menschen einen neuen Charakter. Die vielen
Porträts seiner Freunde und Bekannten, die er jetzt oft in Holz schneidet, zeugen davon, dass Kirchner nicht mehr der erlebende Teilnehmer unter anderen war, sondern stärker in direkter Beziehung
zum einzelnen Individuum stand. Kirchner fotografierte
auch sehr oft die ihn Besuchenden auf seiner Veranda, um den kurzen Moment des Zusammenseins festzuhalten.
Holzschneiden bis an die Schmerzgrenze
Dem gegenüber stehen jetzt reine
Landschaftsbilder, doch auch hier ist Kirchner nicht mehr der integrierte Teilnehmer wie in den Dresdener Badebildern, sondern ein Außenstehender, der die Alpenbauern beim Viehauftrieb oder das
reine Naturschauspiel in abstrahierenden Formen wiedergibt. Die Bilder werden monumentaler, die Formen runder und der ganze Kompositionsstil flächiger. Zunehmend beschäftigt sich der Künstler in einer Art innerer
Vergeistigung, vielleicht sogar innerer Emigration, mit rein künstlerischen Fragen. Durch sein "Leiden", z.B. Lähmungserscheinungen in Beinen und Händen,
war er ans Haus gebunden, d.h. er arbeitet weniger im Freien nach der Natur und mehr aus der unmittelbaren Beschäftigung mit der Kunst selbst. Er arbeitet
nach anderen Farbtheorien, d.h. nicht mit der Einzelfarbe, sondern mit Farbakkorden und ist bestrebt, in kreativer Ekstase den höchsten Ausdruck der reinen Kunstform, der Hieroglyphe zu
erreichen. Den stärksten Ausdruck fand die Herausbildung der Form im Holzschnitt. Kirchner praktizierte diese besonders expressive kraftfordernde Gestaltungsweise
bis an die Schmerzgrenze.
"Ich muss arbeiten, denn ich weiß nicht, wie lange ich es noch kann"
Der Suche nach größter Einfachheit und Klarheit
der Form bei stärkstem Ausdruck gilt jetzt Kirchners ganze Besessenheit im Schaffen. Das Ergebnis war für ihn eine neu gewonnene Freiheit und Erkenntnis, erwachsen, gleichsam als geistige Läuterung, aus dem
Kampf gegen widrige Lebensumstände. "Ich muss arbeiten, denn ich weiß nicht, wie lange ich es noch kann. Ein solches Leben, wie ich es jetzt führe, verpflichtet"
schreibt er 1918 und deutet mit seinen 38 Jahren bereits auf sein Ende hin:"...nach meinem Tode möchte ich sie (die Sammlung der Holzschnitte) irgendwie der Öffentlichkeit zugänglich
machen."
Die Kulturszene in Deutschland konnte zwar
nicht viel Verständnis für die Veränderung im Stil der Schweizer Bilder aufbringen, jedoch war man im demokratischen Nachkriegsdeutschland sehr bemüht, Kirchners Werk besonders aus 'Brücke'- und
der Berliner Vorkriegszeit als einen der wichtigsten Beiträge zum kulturellen Zeitgeist zu pflegen.
In den zwanziger Jahren genoss Kirchner noch gesellschaftliche Anerkennung
Kirchner hatte nicht unter mangelnder
gesellschaftlicher Resonanz zu leiden, in Frankfurt hatte er einen festen Kunsthändler, es fanden kontinuierliche Ausstellungen statt, es wurden Bücher über seine Arbeit verfasst, die preußische
Akademie der Künste-Berlin nahm ihn 1931 als Mitglied auf und es stand zur Debatte, eine Professur in Dresden anzunehmen. In der Schweiz besuchten ihn über die Jahre verschiedene Künstler, die bei ihm Inspiration suchten und die Baseler
Künstlervereinigung 'Rot-Blau' sah in Kirchner ihren geistigen Vater. Obgleich Kirchners Vorhandensein als Künstler auf recht soliden Füßen stand und die Rolle des
verkannten Genies nicht direkt auf ihn passt, war seine künstlerische Realität aufgrund seiner Hyper-Integrität eine andere. Kirchner hatte eine tiefe Abneigung
gegen Opportunismus und Mittelmäßigkeit. Deshalb war
fast jede Begegnung von vornherein eine Herausforderung und hatte grundsätzlich den Charakter eines Kampfes, in dem Kirchner an Alles einen absoluten Maßstab anlegte, nämlich den Maßstab der
Unbestechlichkeit, der Authentizität und Kompromisslosigkeit für die Sache der Kunst.
"Die Kunst ist, weiß Gott, nicht dazu da, als melkende Kuh zu dienen..."
1924 schreibt er: "Es scheint jetzt für die Kunst
eine Zeit der Klärung zu kommen. Es ist sehr wenig Interesse da für bildende Kunst, und viele leiden bittere Not. Aber trotz allem ist das nicht ungut, denn in der Zeit der Hochkonjunktur haben
sich viele Elemente zur Kunst gewandt, die aus unreinen Trieben dazu gingen und meinten, sie könnten so auf bequeme Weise Geld machen. Da sieht man schon mit Genugtuung, wie bitter sich das rächt. Die Kunst ist, weiß Gott,
nicht dazu da, als melkende Kuh zu dienen. Wir hatten diesen Sommer so ein Exemplar von Künstler hier, Akademieschüler gewesen, Expressionist, Cubist,
Gegenstandslos etc durchgemacht und war nun buchstäblich am Ende der Wahrheit angekommen und malte Kindereien, dabei manuell nicht unbegabt. Nesch mit Namen,
Meier-Graefe-Protegé. Dem sollte ich nun aufhelfen, indem ich seine Bilder corrigierte. Ich habe versucht, ihn auf einen einfachen wahren Weg zur Natur zu bringen.
Leider nahm er sich meine Bilder zum Muster und malt nun so und meint, wunder was er hier weggeschleppt hat."
Die
Vorbilder: Dürer und Rembrandt
Im Licht dieser Charaktereigenschaft muss die
vehement betriebene Distanzierung Kirchners von seinen ehemaligen Brücke-Genossen gesehen werden, die man ihm zu Lebzeiten und in der folgenden Rezeption oft und zu Unrecht als Arroganz ausgelegt
hat, zu Unrecht, weil gerade seine Kompromisslosigkeit, seine Integrität und Exzentrik, seine Besessenheit im Schaffen die herausragende spannungsgeladene Atmosphäre seiner Bilder
bewirken. Das also, was wir an seinen Bildern lieben,
dürfen wir ihm menschlich nicht vorwerfen. Man darf das Werk des Künstlers nicht von seiner Person und seinem Schicksal trennen! Kirchner distanzierte sich übrigens nicht nur von seinen Brücke-Freunden und Mit-Begründern des 'Expressionismus', sondern von allen zeitgenössischen Künstlern. Kirchner sah sich künstlerisch als Erbe von Dürer und Rembrandt. Mit Heckel, Schmidt-Rottluff, Pechstein und den anderen Expressionisten teilte er
lediglich eine kurze gemeinsame Phase des Lebens.
Den
reinen Ausdruck geistiger Schöpfung zustandebringen, der sich mit der Natur messen kann
Seine künstlerische Identität hingegen wurzelte in
den 'Klassikern' der deutschen Kunst. Und, kaum ein
anderer Künstler hatte seiner Ansicht zufolge seither den reinen Ausdruck individueller geistiger Schöpfung zustandegebracht, welche sich mit der Natur und der Natur-Form messen
konnte. "Aber wenn ich so wieder durch die Museen ging und meine alten Lieblingswerke von Rembrandt, Cranach, Dürer, den Holländern und den Indern sah, so sind es
doch dieselben Dinge daran, die mich auch heute berühren und an denen ich nur heute viel tiefer und wahrer die Beziehung zu meinem Wege fühle." Dagegen standen seine Zeitgenossen, die Modernen, die "...im Grunde nur mit wenigen
technischen Kniffen, die sie den Alten abgelauscht haben, eine Eigenart konstruieren, die sie dann ängstlich festhalten."
"Ich hasse diese mittlere Linie, und in dieser geehrt zu sein, würde mir den Trieb zum Weiterschaffen überhaupt töten"
Kirchner stämmte sich mit Empörung gegen jede
Stilschublade der Kunstkritiker und um sein individuelles Schaffen so zu vermitteln, dass es dem Volke in seiner ganzen Wahrheit und historischen Dimension als Kulturgut zugänglich werde, schuf
Kirchner sich 1919 ein Sprachrohr, den bereits erwähnten französischen Kunstkritiker Lois de Marsalle, der in diversen Aufsätzen mit fundierter Sachlichkeit Kirchners Kunst erklärte, um -quasi
urheberrechtlich motiviert- die Originalität seines Schaffens zu rechtfertigen. Kirchner, der sich erst 1925 überwunden hatte, wieder deutschen Boden zu betreten, war dabei bestrebt zu zeigen, dass die
deutsche Kunst sich international absolut messen konnte. Er ärgerte sich darüber, dass die deutschen Kulturträger die Tendenz hatten, immerzu nach Frankreich zu
schielen. Um diesen Minderwertigkeitskomplex auszutricksen, gab er seinem Kunstkritiker einen französischen Namen. So war es der Franzose, der nun ernsthaft auf die deutsche Kunst blickte und dafür stand das Werk von Ernst Ludwig
Kirchner.
Unter dem Pseudonym eines Kunstkritikers der eigene
Fürsprecher
1933 ließ Kirchner seinen Kunstkritiker sterben.
Anlässlich einer Retrospektive in der Kunsthalle Bern schreibt de Marsalle zum letzten Mal als Fürsprecher der künstlerischen Originalität und Schlüssigkeit der Kunst
Kirchners: "...Um 1926 sammelt sich das Talent
Kirchners wieder zu einer neuen Leistung, indem er alles früher Erreichte zusammennimmt und in einer Technik, die sich in ihrer Einfachheit der der Frühwerke nähert, visionäre Gestaltungen
hervorbringt.
Die 'Hieroglyphe', diese unnaturalistische Formung des inneren Bildes der sichtbaren Welt, weitet sich und formt sich nach bisher in der bildenden Kunst so nicht verwendeten
optischen Gesetzen, z.B. dem der Reflexion, der Interferenz, Polarisation usw.
Nur ein geschultes und ein empfindliches Auge, wie es Kirchner besitzt, konnte in der Verbindung mit dieser visionären
Phantasie eine solche Steigerung hervorbringen, wie man sie bisher an deutschen Malern nicht beobachtet hat; man müsste schon auf Dürer zurückgreifen, der ja seinerzeit etwas Ähnliches
hervorbrachte, als er die deutsche Kunst aus der Enge gotischer Bindung in die lebensprühende Renaissance hinüberführte. So bringt Kirchner heute mit seinen neuen Werken nur mit originalen, vorläufig nur ihm allein gehörenden Mitteln den Anschluss der
heutigen deutschen Kunst an das internationale moderne Stilempfinden zustande. Er verliert dabei weder an Originalität noch an Kraft, im Gegenteil, sein heutiges Werk ist die logische Folge seiner
ganzen Arbeit durch 30 Jahre hindurch, und es passt auf ihn das Wort Nietzsches, 'nicht fort sollt ihr euch pflanzen, sondern hinauf'."
'nicht fort sollt ihr euch pflanzen, sondern hinauf'
In Kirchners Spätwerk, das er selbst als Vollendung seines Schaffens
betrachtete, sind zwei Tendenzen sichtbar, die Ausdruck seiner spezifischen Emigrantensituation sind: Der Rückzug aus der Gesellschaft und die Beschäftigung mit
rein künstlerischen Formfragen führt in seinen Bildern dazu, dass der Mensch als individuelle Gestalt zurücktritt zugunsten kompositorischer Formfragen. Geht
Kirchner nach Davos ins Café, um diesen Eindruck anschließend auf der Leinwand zu verarbeiten, dann ist das Ergebnis jetzt nicht mehr ein authentischer Schnappschuss des Lebens, der sich in den
für Kirchner so typischen fiebrigen, hochenergetischen Formen niederschlägt, sondern ein malerisches, dekoratives Linien- und Flächenspiel.
Ein Heimatloser als Avantgarde
Um die abstrakten späten Schweizer Bilder in ihrer Bedeutung angemessen erfassen zu können, darf man sie nicht vergleichen mit den 'Berliner Straßenszenen' von
1910. Sie sind aus dem Kontext der Emigration Kirchners zu verstehen. Kirchner fühlte sich nicht als Deutscher und nicht als
Schweizer. Er war ein Heimatloser und er dachte in sehr weit gefassten Kontexten, was übrigens den visionären Charakter der Ausführungen de Marsalles
ausmacht. Er kam von Dürer und Rembrandt und suchte nun eine Kunst zu schaffen, die sich international messen konnte. Dabei knüpfte
er an Kandinsky, Klee und das Bauhaus an. Er hatte aus seiner relativen Isolation heraus die Flucht nach vorn angetreten und 'modernste' Bilder geschaffen. Er
verstand sich darin als Avantgarde. Diese Tendenz ist um so höher zu schätzen, wenn man sich Kirchners Lebensalltag anschaut, aus dem heraus ja die Bilder
erwachsen sind.
Die Quelle innerer Kraft verzehrt sich langsam
Durch das Leben mit den Jahreszeiten inmitten einer oft rauhen Natur, mit langen Wintern, viel Schnee und Einsamkeit, wurde Kirchner zunehmend
empfindlicher. Er lebte mit seiner Frau Erna und seinem Kater Bobby, umgeben von selbstgeschnitzten Möbeln in äußerst einfachen
Verhältnissen. Da er niemals auf schnelle Verkäufe gesetzt hatte, sondern diese sogar ausschlug, wenn er nicht sicher war, dass seine Kunst auch angemessen
gewürdigt wird, hatte Kirchner wenig Geld. Er litt permanent körperliche Schmerzen. Er war darmkrank und offenbar medikamentenabhängig. Erna kränkelte vor sich hin. Sie litt unter Depressionen und hing dem unmöglich scheinenden Traum nach, einmal wieder in ihre Heimatstadt Berlin und zu vertrauten Menschen
zurückzukehren. Kirchners ausgeprägter Intellekt verlangte vergeblich nach mehr geistigem Austausch. Er hatte einen scharfen
Verstand und brauchte die unmittelbare Konfrontation, die Reibung; konventionelle "Kohlrübengespräche" in bürgerlicher Manier konnte er nicht ertragen.
1932: der zweite Einbruch
In dieser empfindlichen Situation greift nun 1932 das zweite unheilvolle historische Zahnrad in den Verlauf seines Lebens ein: Hitler und der
Nationalsozialismus. 1937 schreibt er:
"Wenn es sein muss, bringe ich auch das Leben zum Opfer für die Kunst. Ich habe ein reines Gewissen und habe stets das beste meiner Arbeit anderen
gegeben. Ein gültiges Werturteil wird erst lange nach uns möglich sein, denn das Neue in geistigen Dingen wird nie zu der Zeit richtig verstanden, in der es
geschaffen wird. Wie ging es Rembrandt, wie Dürer, Frans Hals starb im Armenhause. Wie viele Künstler alter und neuer Richtung verhungern nicht heute? In allen
Ländern. Doch es gibt nur eines, weiterschaffen mit allen Kräften. Ich bin bei großen Bildern... viele Arbeiten aus dem Kopf, über Holzschnitt oder Radierung zum
Bilde sich entwickelnd wie früher ja auch oft." Während Kirchner seinen Glauben an die Beständigkeit des Geistes aufrecht hielt und das Schaffen aus der Phantasie
ihn -wie er es selber nannte- "zwischen Wirklichkeit und Traum" lebensfähig hielt, um die Härte und Enttäuschung über den Niedergang der Kultur besser ertragen zu können, wurde die äußere
Realität immer dunkler.
Hitler und seine Schergen brachen ihm das Genick
Um nur einige Ereignisse zu nennen: Kirchners Händler Ludwig Schames war bereits 1933 nach Palästina emigriert. 1934 wurde Kirchners freundlich gesonnener Fürsprecher Ernst Gosebruch als Leiter des Folkwangmuseums in Essen abgelöst. Damit hatte sich ein Auftrag für
mehrere Wandmalereien, auf die Kirchner sich jahrelang nervenaufreibend vorbereitet hatte, plötzlich zerschlagen. 1935 stirbt sein Freund Gustav
Schiefler. 1937 wird Kirchner von der Preußische Akademie der Künste in Berlin als Mitglied ausgeschlossen und die Nazis waren nun soweit, 639 seiner Werke als
'entartet' beschlagnahmen zu können, um sie dann später ins Ausland zu verscherbeln oder zu zerstören. Der erste Weltkrieg hatte Kirchner nervlich zerrütet und in
die Emigration getrieben. Dort war die Bedrohung eine leibliche und Kirchner sah sich selbst als gescheitert und untauglich fürs Leben. Die jetzige Situation war von anderer Dimension und sollte
ihm das Genick brechen. Kirchner hatte seine gesellschaftliche Stellung als Künstler behauptet und seinen Beitrag zur Kulturgeschichte unter permanentem Kämpfen
und in voller Verantwortung für die Kunst geleistet.
Kapitulation vor dem Vernichtungsfeldzug gegen den Geist
Dieses Werk sollte nun im Zuge der Zerstörung des Geistes und der Kultur durch die Nationalsozialisten vernichtet werden. Nicht Unverständnis
oder Missachtung wurde ihm damit entgegen gebracht, sondern die gezielte mutwillige Demontage. Als Verstandesmensch mit ausgeprägter Ratio war Kirchner bestrebt,
die Dinge zu durchdringen, zu verstehen, um sie dann künstlerisch zu gestalten und in der eigenen Form zu besitzen. Der Vernichtungsfeldzug eines Psychopathen
gegen den Geist war mit dem Verstand nicht zu lösen, geschweigedenn psychisch zu ertragen. Kirchner zog daraus die für ihn einzig mögliche Konsequenz, sein Leben
zu beenden. Er hatte sein künstlerisches Werk vollendet und war "reinen Gewissens". 1937 beantragt er die Schweizer Staatsbürgerschaft, um seine Existenz gegen
deutsche Übergriffe zu schützen und sichert Erna testamentarisch das Erbe seiner Kunst. Am 15.Juni erschießt er sich auf einer Wiese in der Nähe seines
Hauses.
Seit den letzten Jahren in eine furchtbare Vereinsamung geraten
Erna an Luise Schiefler:
"Seit Monaten spielte sich hier auf dem Wildboden in aller Stille eine Tragödie ab. K. litt seelisch unsagbar unter der Diffamierung in Deutschland. Dazu kam, dass er auch hier in der Schweiz sich im luftleeren Raum fühlte. Ich kann Ihnen jetzt keine Einzelheiten schildern. Leider stehen seine Brüder
der Kunst völlig fremd und teilnahmslos gegenüber. Man macht am 16.dM. hier eine Gedächtnisausstellung. Alles ruht auf mir. Er hat
ein grauenhaftes Chaos hinterlassen... Fremde Menschen gehen in seinen Bildern herum.... Wir sind seit den letzten Jahren in eine furchtbare Vereinsamung geraten, die natürlich durch sein
körperliches Befinden bedingt war. Vor mir liegt ein großes Dunkel."
© 1997-2021 by Susanne Meyer