Edvard Munch

Der Schrei

von Susanne Meyer

Edvard Munch, Der Schrei, 1893, Öl, Tempera und Pastell auf Pappe, Nationalgalerie Oslo
Edvard Munch, Der Schrei, 1893, Öl, Tempera und Pastell auf Pappe, Nationalgalerie Oslo

Der Schrei

 

Ich möchte hier ein Bild vorstellen, das so bekannt ist wie die Mona Lisa und das man das absolute Gegenstück zu ihr nennen könnte:
Es ist Der Schrei von Edvard Munch 
(1863 - 1944).

Munch hat dieses abstrakte Selbstbildnis in verschie-denen Versionen und Tech-niken immer wieder neu geschaffen.


Das Bild zeigt eine dem Betrachter zugewandte Person auf einer Brücke stehend; sie hält sich in einer für den Menschen typischen Geste des Erschreckens die Hände an den Kopf, das Gesicht hat den Charakter eines Totenkopfes, Augen und Mund sind weit aufgerissen. Die Figur lehnt an das Brückengeländer, die Brücke hat eine starke Flucht zum linken Bildmittelpunkt. Im Hintergrund gehen zwei Gestalten. Rechts hinter und unterhalb der Brücke sieht man eine bewegte, in fließenden Formen abstrahierte Landschaft, im Hintergrund einen Fjord, darüber einen dramatisch bewegten Himmel.

Die Brücke am Fjord ist nicht nur Schauplatz für Munchs Schrei. Die Aussicht auf den Fjord und Oslo im Hintergrund war ein beliebtes Motiv auf Postkarten um 1900. Unterhalb der Stelle, an der Munch seinen Schrei erlebte, lag der Schlachthof und nicht weit davon das psychiatrische Krankenhaus für Frauen, in das Munchs Schwester Laura eingeliefert war. Grund genug, sich schlecht zu fühlen.

Der Schrei ist kein besonders schönes Bild, wie man es von der Mona Lisa vielleicht noch behaupten könnte, und das hat einen einfachen Grund: es handelt von Angst. Da es ein sehr authentisches Bild ist, bietet es -bei diesem Kontext- keinen ausgesprochen ästhetischen Genuss.

Frei fluktuierende Angst unter freiem Himmel

Ich kenne kein anderes Bild, das in so authentischer Weise das Phänomen ANGST als einen existentiellen menschlichen Zustand unmittelbar zum Ausdruck bringt. Der Schrei ist ein autobiografisches Dokument; ein Dokument der chronischen Lebensangst Edvard Munchs. Es bezieht sich auf eine reale Begebenheit, die Munch in seinem Tagebuch beschrieben hat: "Ich ging mit zwei Freunden die Straße entlang, die Sonne ging unter- ich spürte einen Hauch von Schwermut - der Himmel färbte sich plötzlich blutig rot. Ich blieb stehen, lehnte mich todmüde gegen einen Zaun- sah die flammenden Wolken wie Blut und Schwerter- den blauschwarzen Fjord und die Stadt- meine Freunde gingen weiter- ich stand da zitternd vor Angst- und ich fühlte wie ein langer unendlicher Schrei durch die Natur ging."

 

Bilder aus der Erinnerung, gesehen durch das innere Auge


Munch hat dieses Erlebnis, wie alle seine bedeutenden Bilder, aus der Erinnerung gemalt. Es ist der besondere, einzigartige Wert der Bilder von Munch, dass sie Erinnerungs-Bilder sind, es sind Abbilder aus seelischen Traumata, die von einer sehr schweren Kindheit herrühren: 
Mit fünf Jahren verlor Munch seine Mutter und einige Jahre später seine Schwester durch Tuberkulose, er selbst war halb tot geboren worden, der Vater war in religiösen Wahnsvorstellungen gefangen, Munchs Schwester Laura galt als geisteskrank und Munch selber litt unter starken nervösen Erregungszuständen, Depressionen und Lähmungen; fast naheliegend die Tatsache, dass er Alkoholiker war.
Um seine Erinnerungen zu malen, blinzelte Munch mit halb geschlossenen Augen in sich hinein und rief diese vor seinem geistigen Auge ab. Dann formte er sie in lang fließende Formen von äußerst einfacher Gestalt. Viele Zeitgenossen empfanden diese fließenden Formen als künstlerische Unverschämtheit und eine Zumutung für den guten Geschmack, die Kunstgeschichte jedoch hat für diese Freiheit des Geistes den Begriff 'Moderne' geprägt: hier beginnt die Kunst, dem Menschen zu dienen. Sie ist nicht länger Ausdruck und Abbild einer als objektiv geltenden Welt, sondern Ausdruck der subjektiven Weltsicht des Künstlers. Der Mensch beginnt die Idee des Individuums zu gestalten und das Individuum lebt durch seine Gefühle, denn diese sind unteilbar. (Individuum, lat.: Das Unteilbare).

Die Unmittelbarkeit der Seele in fließenden Formen

Munch stellt in seinem 'Schrei' die Angst des Individuums da und genau deshalb nimmt es unter allen Kunstwerken eine besondere Stellung ein, denn die individuelle Angst ist nicht teilbar, nicht kommunizierbar im öffentlichen Diskurs der Gesellschaft, sie ist ein Tabu-Thema, ähnlich wie der Tod, und das, obwohl sie das meist verbreitete Gefühl unter den Menschen ist. Angst wird stattdessen in abstrakte Begriffe gebannt. Man hat der Angst in verschiedenen Zeiten verschiedene Namen gegeben, Melancholie, Neurasthenie, Hysterie, Vegetative Dystonie und in jüngster Zeit nennt man die Spitze des Eisberges 'generalisierte Angsterkrankung'.
Rund 1,3 Millionen Bundesbürger leiden an dieser wie es heißt "psychischen Störung", die sich in monatelang anhaltenden Ängsten, Sorgen und Befürchtungen niederschlägt. (Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie)...
Das Besondere an Munchs 'Schrei' ist, dass er ein menschliches, existentielles Grundgefühl visuell auf den einfachsten Nenner gebracht hat. Dennoch ist Munchs 'Schrei' der Angst in der Zeit lautlos verhallt, keine Geschichte kursiert, keine Legende.
Wir wollen das verklärte Lächeln der Mona Lisa, ob mit oder ohne Bart und wenn man vor ihrem Original steht und sich vorstellt, daß ein homosexueller Leonardo sich in ihrer Gestalt versteckt, kann einem auch ganz schön gruseln.

© 1997-2021 by Susanne Meyer

Edvard Munch, The Scream, 1893, Oil, tempera, pastel and crayon on cardboard
Edvard Munch, The Scream, 1893, Oil, tempera, pastel and crayon on cardboard

The Scream

 

I want to introduce you here to a picture which is as well known as the Mona Lisa, and which could be called it's exact counterpart. It is The Scream by Edvard Munch (1863 - 1944).

Munch created this abstract self-portrait anew several times in different versions and techniques.

The picture shows a person standing on a bridge, holding his head with his hands with a typical gesture of scare. His eyes and mouth are wide open.

The bridge at the fjord is not only the setting for Munch's "Scream". The view over the fjord with Oslo in the background was a favourite subject for postcards at the turn of the century.

Lower down from the spot where Munch experienced his "Scream" lay the slaughterhouse, and not far from there was the women's psychiatric hospital where Munch's sister Laura was taken. Reason enough indeed to feel wretched.

"The Scream" is not an exceptionally beautiful picture in the way that the Mona Lisa could be described as such, and there is one simple reason for this: its subject is fear. And just because it is such an authentic picture, this context allows it to offer nothing in the way of a manifestly esthetic enjoyment.

 

Pictures painted from recollections

 

I know of no other picture that has such an authentic way of expressing so directly the phenomenon of FEAR as an existential human condition. "The Scream" is an autobiographical document; a document of Edvard Munch's chronic fear of life. It refers to a real incident that Munch wrote about in his diary:

"I was walking along the street with two friends -- the sun was going down -- I felt a touch of melancholy. Suddenly the color of the sky changed to blood-red. I stopped walking and leaned against a fence feeling tired to death --I saw the flaming clouds like bloodstained swords -- the blue-black fjord and the city -- my friends went on walking -- I stood there trembling with fear -- and I felt how a long unending scream was going through the whole of nature."

Munch painted this experience, like all his great pictures, from his recollections. It is the uniquely outstanding value of Munch's pictures that they are "recollected images", images of emotional traumas that had their origin in a very difficult childhood: at the age of five Munch lost his mother and a few years later his sister through tuberculosis; he himself was born only just alive; his father was a prisoner of religious delusions; Munch's sister Laura was considered mentally ill and Munch himself suffered from severe states of nervous agitation, depressions and paralyses, with the threat of alcoholism always close at hand.

 

Images recalled before the inner eye

 

To paint his recollections, Munch would half close his eyes and look deep within himself in order to recall them before his inner eye. Then he would shape them into long flowing forms of extremely simple design. Many of his contemporaries considered these flowing forms to be artistic effrontery and an offence against good taste; but the historians of art have characterized this freedom of mind as the "Modern Age".

Here art begins to serve man. It is no longer the expression, or replica, of a perceived objective world, but the expression of the subjective world-view of the artist. Mankind is beginning to shape the idea of the individual, and the individual lives through his feelings, which are indivisible from him. (Lat. individuus = indivisible).

In "The Scream" Munch portrays the individuals fears, and for exactly that reason it occupies a special place among works of art because an individual's fears cannot be shared; they are not fit to be talked about in the public discourse of society fear is a taboo subject like death, although it is the most widespread feeling among human beings. Fear is instead banished into abstract terms.

 

Munch's 'Scream' died into silence

 

At various times fear has been called by various names: melancholy, neurasthenia, hysteria, vegetative distony, and recently the tip of the iceberg has been called 'generelized anxiety'. About 1.3 million Germans suffer from this 'psychic disorder', as it is called, which is reflected in months of persistent fears, worris and apprehensions. (Max Planck Institute for Psychatry, Munich) 

The importance of Munch's 'Scream' lies in the fact that he has brought a fundamental human existential feeling to its simplest visual denominator. And yet time has made Munch's "Scream" die away into silence; no story circulates about it, no legend. We feel the need for the beatific smile of the Mona Lisa, with or without a beard, even though we can make our flesh creep by standing in front of the original and imaginating a homosexual Leonardo concealing himself in her appearance.

 

© 1997-2017 by Susanne Meyer


Edvard Munch und Deutschland

von Susanne Meyer

Wolf Wonder. Der Schrei. 1998
Wolf Wonder. Der Schrei. 1998

"Ich male nicht das was ich sehe, sondern das was ich sah"....

... was Edvard Munch lapidar zum Leitsatz seiner Kunst erklärte, ein Motto, das zunächst so harmlos anmutet, entlud 1892, anlässlich seiner ersten Einzelausstellung in Deutschland, im 'Verein Berliner Künstler', soviel Dynamit, dass die Bilder nach wenigen Tagen abgehängt und die Ausstellung geschlossen wurde; die älteren Vorstandsmitglieder, allen voran Anton von Werner, empfanden Munchs Werke als einen Hohn für die Kunst, als Schweinerei und Gemeinheit.
'Versehentlich' hatte man, wohl im Zuge der damals gerade in Deutschland waltenden Skandinavien-Verehrung, den jungen Norweger zu einer Sonderausstellung eingeladen, ohne sich vorher seine Bilder anzusehen.
Munch distanzierte sich kopfschüttelnd, aber in sicherer Überlegenheit von den Beschimpfungen durch die konservative Garde der "alten jämmerlichen Maler, die über die neue Richtung rasen", denn es war ja nur verständlich, dass sie denjenigen anfeindeten, der ihre Vorstellung einer 'schönen Kunst' nach festen ästhetischen Kodizes über den Haufen warf, zugunsten subjektiver Bilder eines fühlenden Individuums.


"Den Grundstein legen für eine Kunst, die einen ergreift"


Schließlich sprengte Munch mit diesem Stein des Anstoßes, der Berliner Skandalausstellung, den Weg frei für eine neue Kunst, die 1898 zur Gründung der 'Berliner Secession' führte und die den deutschen Expressionismus vorbereitete.
"Wir wollen versuchen, ob es uns nicht gelingt, den Grundstein zu einer Kunst zu legen, die den Menschen etwas gibt. Einer Kunst, die einen packt, ergreift. Die Kunst, die mit dem eigenen Herzblut geschaffen wird."
Als Munch dies 1888 notierte, war es ihm bereits gelungen, den Grundstein für eine neue Kunst zu legen, sein programmatisches Statement "Ich male nicht das, was ich sehe, sondern das, was ich sah" hatte Gültigkeit vom ersten bis zum letzten Bild, galt es doch nicht, das künstlerische Auge einer objektiven Wahrnehmung und stilistischen Regeln zu unterwerfen und sich in akademischer Manier womöglich zu 'entwickeln', sondern zu versuchen, das Substrat der Seele in Stimmungsbilder aus Form und Farbe umzusetzen. So 'sieht' Munch nicht die bloße Schönheit der Natur, die er künstlerisch interpretiert und mit Sinn füllt, sondern blinzelt mit halb geschlossenen Augen in sich hinein und reproduziert vor dem inneren, geistigen Auge Erlebnisbilder aus seinen Erinnerungen, die sich als fotografisches Abbild in seinem Gedächtnis und seiner Seele eingebrannt haben.


"Meine Kunst ist ein Selbstbekenntnis"

Was Munch 'sah', Bilder aus der Vergangenheit, Bilder aus seiner persönlichen Geschichte, das sah er vor allem mit den Augen des traumatisierten Kindes, das mit angsterfüllten, weit geöffneten Sinnen in eine Welt blickt, die von Krankheit und Tod bestimmt war. Selbst halb tot geboren, von einer Mutter, die zur Zeit seiner Geburt bereits den "Keim des Todes", den TBC-Virus, in sich trug, war Krankheit früh seine zweite Natur geworden. Was Munch 'sah', das ist die Erinnerung des Fünfjährigen an die dunkle Gestalt der Mutter kurz vor ihrem Tod, die weinend am Fenster steht und von den Kindern Abschied nimmt, mit den Worten, sie müsse für immer von ihnen gehen; das ist die Erinnerung an das Sterbezimmer und an den Tod seiner geliebten Schwester Sophie, die ebenfalls nach langem Siechtum an Tuberkulose stirbt; das ist das Bild des Vaters, der in religiöser Verwirrung im Zimmer auf und ab läuft und der für Munch so kaum mehr erreichbar war. "Die Lebensangst hat mich begleitet, solange ich mich erinnern kann. Meine Kunst ist ein Selbstbekenntnis gewesen...[Sie] hatte ihre Wurzel in der Reflexion, in der ich nach der Erklärung dieses Missverhältnisses zum Leben suchte- Warum war ich nicht wie die anderen? geboren- etwas um das ich nicht gebeten habe." Dokumente dieser Selbstreflexion, die in ihrem erkenntnistheoretischen Anspruch an Modernität bis heute nichts eingebüßt haben, zeigt die Hamburger Kunsthalle ab 9. Dezember in der Ausstellung 'Munch und Deutschland'.

"Deutschland hat die größten Künstler"

Zu den circa 100 Werken Munchs, Ölgemälde und Graphik, die zum großen Teil Leihgaben des Munch-Museums in Oslo sind, kommen Bilder der deutschen Malerei des späten 19. Jahrhunderts, die das künstlerische Klima zeigen sollen, dass Munch in Deutschland vorfand. Die Ausstellung zeigt neben Radierungen von Klinger Gemälde von Böcklin, Leistikow, Corinth, Marées, Thoma und Stuck. Expressionistische Meisterwerke von Heckel, Kirchner, Nolde, Schmidt-Rottluff, eröffnen eine Perspektive auf die Wirkungsgeschichte von Munchs Schaffen.
Munch und die deutsche Malerei in Hinblick auf ihre Bedeutung für Munch, das ist vor allem die Begegnung mit dem Werk Arnold Böcklins, dessen Bild 'Heiliger Hain' Munch bei seinem ersten Besuch in der Hamburger Kunsthalle 1891 entdeckte. Die antinaturalistische Naturauffassung, die Art, wie Böcklin durch das Licht eine ernste, raumgreifende Atmosphäre schafft, ließ Munch zu Böcklin eine anhaltende Affinität empfinden. 1893 schreibt er: "So elend es um die Kunst allgemein hier in Deutschland bestellt ist, sie hat den Vorteil, dass sie einzelne Künstler hervorgebracht hat, die alle anderen so hoch überragen und so allein stehen- z.B. Böcklin, der, so meine ich fast, über allen anderen gegenwärtigen Malern steht. Frankreich verfügt über eine Kunst, die über der deutschen steht, doch über keine größeren Künstler."


Nächtlicher Malrausch und Trinkgelage

 

Munch, der Prophet, der zunächst im eigenen Lande nichts galt, vor der Künstler-Bohème in Kristiania/Oslo war er regelrecht geflohen, suchte jedoch in Deutschland weniger eine künstlerische Befruchtung, als vielmehr ein Forum, mit den 'Skizzen' seiner Seelenbekenntnisse seine Existenz zu finanzieren; Berlin wurde seit seines spektakulären Auftretens 1892 Munchs eigentliches 'zu hause'. Für den Rastlosen hieß das Umziehen von einer Pension in die andere. Wie Munchs Freund Hermann Schlittgen zu berichten weiß, "konnten die Pensionsmütter offenbar seine Malerei nicht vertragen. Seine Bilder standen überall im Zimmer herum, auf dem Sofa, oben auf den Kleiderschränken, auf allen Stühlen, auf dem Waschtisch, auf dem Ofen. Oft malte er nachts, wenn er spät nach Hause kam. Dann lief man morgens, wenn man ihn besuchte, in eine Palette oder stieß gegen ein frisches Bild, das irgendwo stand, wo es unmöglich stehen konnte". Bilder wie 'Vampir', 'Selbstbildnis mit Weinflasche', 'Roter wilder Wein' entstanden hier. Sofern Munch nicht malte, trank er, und zwar zunächst in Gesellschaft seiner Berliner Künstlerkollegen, Stanislaw Przybyzewski, Dagny Juell, August Strindberg, Richard Dehmel und Julius Meier-Graefe, die den harten Kern bildeten und die Munch in Bildnissen darstellte.

Visionen vom Umsturz in Kunst und Gesellschaft

Stammkneipe war eine 'Zum schwarzen Ferkel' genannte Probierstube, die mit einem Angebot von über 800 Schnapssorten das "Zentrum des alkoholischen Universums" war. Hier wurde allabendlich meist exzessiv gesoffen, denn im Zustand des Trunkenseins waren die überwiegend exzentrischen Neurotiker eigentlich erst wirklich in der Lage, ein beglückendes Gefühl von Gemeinsamkeit zu erleben. Man berauschte sich dann an den "visionären Predigten vom Umsturz in Kunst und Gesellschaft", was bisweilen soweit führte, dass Mobiliar oder Fensterscheiben zu Bruch gingen. In diesem knisternden, hochenergetischen Klima der neuen Berliner Bohème, begann der 29jährige Skandinavier, gestützt auf sein Standbein Berlin, in den folgenden 16 Jahren unbeirrbar ein existenztragendes Netz aus Förderern, Fürsprechern und Kunden aufzubauen. Von den deutschen Malerkollegen stand Walter Leistikow Munch sehr nahe; dieser hatte bereits anlässlich Munchs Rausschmiss aus der Berliner 'Skandalausstellung' unter einem Pseudonym einen Artikel veröffentlicht, in dem er die selbstgefällige Borniertheit der konservativen Mitglieder des Vereins bei der Verfahrensweise mit ihrem norwegischen Gast anprangerte.

Durch bürgerliche Kunst-Freunde getragen 


Seiner Initiative ist es zu verdanken, dass nach langen Geburtswehen die 'Berliner Secession' gegründet werden konnte, in der Munch auf einer Ausstellung 1902 mit 28 Bildern teilnahm, eine hervorragende Presse bekam, und deren Mitglied er 1904 wurde. Freund und Beschützer Munchs war in besonderem Maße Albert Kollmann, pensionierter Kaufmann und Kunstförderer aus Leidenschaft, der nach Munchs Worten unermüdlich daran arbeitete, ihm in Deutschland ein gutes Auskommen zu ermöglichen. Als rettender Engel war er immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um Munch finanziell aus der Patsche zu helfen, kaufte selbst Bilder von Munch und machte diesen mit seinen reichen Freunden bekannt. Das waren vor allem der Industrielle Walther Rathenau, der seine Munch-Sammlung anlegte, und der Mediziner und Kunsthistoriker Curt Glaser, der 1917 auch ein Buch über Munch schrieb. Durch Kollmann wurde Munch auch mit dem Lübecker Augenarzt Max Linde bekannt, der große Stücke auf Munchs Arbeit hielt und 1902 in einer Schrift 'Edvard Munch und die Zukunft' das Ende des gerade erst aufgelebten Impressionismus beschwörte, weil dieser sich nur auf die Wiedergabe von Oberflächenreizen beschränke. Dieser gab auch den großen Auftrag zum 'Linde-Fries', eine Reihe von zehn Vollblutwerken, die Munch zufolge in ihrer starken Wirkung das ganze Zimmer erschlugen. Linde lehnte den fürs Kinderzimmer bestimmten Fries jedoch ab, weil die Darstellung der sich küssenden Liebespaare ihm nicht kindgerecht erschien. Für den vereinbarten Preis von 4.000 Mark nahm er dafür ein anderes Bild seines Schützlings. 

Ein weiterer 'Knoten im Netz' zur Etablierung seines einzigartigen Werkes war dem Künstler der Hamburger Landgerichtsdirektor Gustav Schiefler, der besonders Munchs Graphik sammelte und in mehrjähriger Arbeit ein Werkverzeichnis über die Graphik erstellte und immer helfend eingriff, wenn Munch mit seinem Hamburger Kunsthändler Ärger hatte. 1905 nämlich übergab Munch, der es leid war, Ausstellungen und Verkäufe selbst zu organisieren, seine Geschäft dem Inhaber der Galerie Commeter, Wilhelm Suhr. Obgleich dieser Munchs Bilder regelmäßig ausstellte, auf Tournee schickte und Porträtaufträge vermittelte, kam Munch von der Angst nicht los, er könnte seine 'Kinder', die Bilder verlieren, unterstellte Suhr die Veruntreuung von Bildern oder befürchtete, durch ungünstige Vertragsbedingungen übers Ohr gehauen zu werden.

Mit Alkohol im Kampf gegen frei fluktuierende Ängste

Vorzeitig wurde denn auch das Vertragsverhältnis nach zwei Jahren aufgelöst. Brono Cassirer, der in Berlin für den selben Zeitraum die Exklusiv-Verkaufsrechte für Munchs Graphik hatte, konnte ebenfalls kein gutes Team bewerkstelligen. Noch 1926 klagt Munch in einem Briefentwurf an Schiefler in holprigem deutsch: "Das schwerste Zeit für mich war wenn Bruno Cassirer mein Grafik Verkauf übergenommen hat - In drei Jahr liess er der Grafik in sein Bureau liegen." Mehr als die verunglückten Galeriebindungen erschöpften Munch in den 16 Jahren bis 1908 das permanente Reisen. Ob Berlin oder Brüssel, Weimar, Lübeck, Kopenhagen, Dresden oder Kristiania, Munch war ständig unterwegs, um Ausstellungen zu organisieren , Bühnenentwürfe oder Porträtaufträge für seine Kunden auszuführen. Dies ging nicht ohne Alkohol. Mit Schnaps und Wein versuchte der hochsensible Künstler oft schon früh morgens, seine frei fluktuierende Angst niederzuhalten. Zu der unbestimmten, aus früher Kindheit stammenden Lebensangst kam die Angst vor sich selbst. Munch litt nicht nur unter extremen Gemütsschwankungen, sondern hatte regelrechte Nervenattacken, Anfälle von Verfolgungswahn.

Seelische Verletzungen künstlerisch abtragen

In solchen Zuständen konnte er Lähmungserscheinungen und Sprachverlust haben, oder er wurde handgreiflich und beleidigte Leute, was für ihn um so schlimmer war, als er sich hinterher nicht mehr erinnern konnte. Munch hatte Angst, er könnte aufgrund erblicher Disposition geisteskrank werden, so wie man es seiner Schwester Laura diagnostiziert hatte. Die ununterbrochene Beschäftigung mit seinen Bildern, das tägliche Reflektieren und künstlerische 'Abtragen' seiner Verletzungen war ihm zur Therapie geworden, d.h. die Symptome seines seelischen Schmerzes verstärkten sich zunächst, so dass Munch 1907 für ein Jahr zur Erholung nach Warnemünde ging. Die hier entstandenen Werke, z.B. 'Der ertrunkene Junge' , 'Maurer und Mechaniker', in denen das Paar eines schwarzen und weißen Mannes auftritt, vermitteln eine Idee von der 'Verrücktheit', mit der Munch sich konfrontiert sah. 1908 kam der Zusammenbruch, als Munch zu Ausstellungsvorbereitungen in Kopenhagen weilte, wo ihn "einer der schlimmsten norwegischen Bohemiens" in ein viertägiges Trinkgelage verwickelte. Er sah sich gezwungen, für mehrere Monate eine private Nervenklinik in Kopenhagen aufzusuchen, wo man ihm einen leichten Schlaganfall diagnostizierte.

Durch innere Läuterung zu neuem Lebenssinn

In einem Brief an seinen Hamburger Freund Gustav Schiefler schreibt er über die unerträgliche Spannung, die über Jahre in ihm lebte und die sich zu einer Krise entwickeln musste, "Ich bin froh das ich endlich zu ein ernste Kur gekommen bin- Die Zustand war entsetzlich und musste ein Schluss haben." Schluss machte Munch in der Klinik vor allem mit dem Alkohol, der seine "Seele und Sinne gespalten" hatte. Ein Schub von Selbstheilungswille äußerte sich darin, dass der ohnehin introvertierte Künstler nach einem Prozess seelischer Läuterung ein Stück mehr in die innere Emigration ging und das hieß, sich endgültig mit einer grundsätzlichen Einsamkeit abzufinden. Zum Beispiel hatte er jahrelang über die verunglückte Beziehung zu seiner einzigen Geliebten, Tulla Larsen, geflucht, die er beschuldigte, sein Leben ruiniert zu haben. Durch seine "Krise" hörte Munch auf, die Wunden aus traumatischen Verletzungen durch negative Phantasien neu zu nähren. Er konnte fortan das weibliche Geschlecht wie eine "schöne Blume genießen, an deren Duft man sich erfreut". Er verabschiedete sich auch von der wahnhaften Vorstellung, dass seine norwegischen 'Feinde' im Kreis um Tulla Larsen ihm die Rückkehr in seine Heimat vergällten und nahm ab 1909 seinen eigentlichen Wohnsitz in Kragerö, später, ab 1916, auf einem gekauften Anwesen in Ekely. Dieses 'Zurück zu den Wurzeln' war jedoch kein Rückzug aus dem Leben.

Durchschlagender Erfolg mit der Sonderbundausstellung

Munch schuf ab jetzt besonders farbenprächtige, lebensbejahende Bilder und der herausragende kulturhistorische Wert seines Schaffens manifestierte sich eben zu dieser Zeit, nämlich in der Sonderbund-Ausstellung in Köln, 1912, wo Munch bereits zu den Klassikern der Moderne gezählt wurde. Seinem Freund Jappe Nilssen berichtet er: "Ich habe den größten Saal der Ausstellung bekommen-Die Hauptabteilung wird van Gogh, Gauguin und Cézanne- 3 Säle voll van Gogh! 86 in höchstem Maß interessante Bilder-Ich schäme mich fast, dass ich so viel Platz bekommen habe."
'Munch und Deutschland', das sind in der Hamburger Ausstellung Werke aus der Zeit zwischen 1891 und 1908. Gezeigt werden u.a. Bildnisse der frühen deutschen Freunde und Förderer, Bilder aus dem Linde-Fries, aus Warnemünde, der Rheinhard-Fries sowie die malerischen Thüringer Landschaften.
In Hinblick auf Munchs Anliegen eines Selbstbekenntnisses ist der Lebensfries von besonderer Attraktivität; er umfasst eine Gruppe von selbständigen Einzelwerken, die Munchs essentielle Themen behandeln: die erotische, sehnsüchtige Liebe von Mann und Frau zwischen den Polen der Begierde und Enttäuschung, die Einsamkeit im Schmerz, die Angst und den Tod. In dieser "Dichtung über das Leben, die Liebe und den Tod", an der Munch rund dreißig Jahre arbeitete, offenbart sich auch besonders anschaulich seine naturphilosophische Auffassung einer alles Leben und Streben umfassenden organischen Bewegung.


Ein Licht der Orientierung für die Brücke-Maler

Leben und Tod sind dabei nur zwei verschiedene Stadien im ewigen Kreislauf der Verbrennungs-und Kristallisationsprozesse in der Natur. 
Die Liebe sah er wie ein unterirdisches Kabel, dass die Liebenden zusammenbindet und sie dem Schicksal in Form von Enttäuschung, Verzweiflung und Verlust überantwortet, bis dass der Tod sie zu Asche verwandelt, aus der neue, duftende Blumen hervorwachsen. Munch war es gelungen, die tragischen Wahrheiten seines Lebens in Symbole und Metaphern von unglaublicher Einfachheit und Schönheit zu übersetzen. In diesem Sinne verehrten ihn die Brücke-Maler, die behaupteten, stilistisch nicht von Munch beeinflusst worden zu sein, als starke Persönlichkeit und herausragenden Künstler. Absolute Authentizität im Bloßlegen psychologischer Wahrheiten der menschlichen Natur; mehr konnte es in der Kunst nicht geben. Das wussten auch die Nationalsozialisten, die leider das letzte Kapitel in der Geschichte 'Munch und Deutschland' schreiben sollten. Im Zuge ihrer gigantischen Ausrottung jeglicher geistiger Wahrheit verschwand auch Munch aus den deutschen Museen; 1937 wurden 82 seiner Werke als "entartet" beschlagnahmt. Munch lebte indessen zurückgezogen auf seinem Anwesen in Ekely umgeben von seinen 'Kindern', den Bildern. Hier starb er, der zu seinem 80. Geburtstag noch zahlreiche Ehrungen erhalten hatte, 1944 im Alter von 81 Jahren.

© 1995-2021 Susanne Meyer